Bundessozialgericht definiert Sozialdatenschutz in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
Kassel (adr) Am 19.09.2008 hat der 14. Senat des Bundessozaigerichts (BSG) letztinstanzlich entschieden, dass Leistungsbezieher der Grundsicherung für Arbeitsuchende künftig regelmäßig Kontoauszüge wenigstens aus den letzten drei Monaten vor Antragstellung beibringen müssen, wenn die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) als Leistungsträger dies fordert. Dies gilt auch für den Fall, dass die Leistung auf Grundsicherung zum wiederholten Male beantragt wird (Aktenzeichen der Entscheidung: B 14 AS 45/07 R).
Den Hintergrund der Entscheidung bildet folgender Sachverhalt: Der Kläger, ein Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, hatte sich im Jahre 2006 geweigert, Kontoauszüge der letzten drei Monate beizubringen, wie von der ARGE von ihm gefordert. Begründet hat er dies damit – nimmt man lediglich die bisher vorliegende Medieninformation des Gerichts – dass er Kontoauszüge aus den drei Monaten vor der Erstantragstellung bereits beigebracht habe. Daraufhin war ihm von der zuständige ARGE die Leistung nach Hartz IV (also die Leistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem 2. Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) versagt worden.
Zu Recht, wie das BSG nunmehr entschieden hat.
Der 14. Senat des BSG hebt entscheidend auf die Erforderlichkeit der Beibringung von Kontoauszügen ab, bejaht allerdings in einem Folgeschritt auch die Verhältnismäßigkeit, ohne dieselbe wohl freilich näher zu prüfen. Danach ist das Beibringen von Kontoauszügen durch den Leistungsempfänger regelmäßig erforderlich, damit die ARGE nachvollziehen kann, ob in den letzten drei Monaten vor Antragstellung durch den Leistungsempfänger Einkünfte erzielt worden oder ihm sonstige Geldmittel durch Dritte zugeflossen sind.
Damit ist für die Grundsicherung für Arbeitsuchende ein seit Längerem schwelender Streit – insbesondere zwischen den Landessozialgerichten (LSGen) Hessen und Nordrhein-Westfalen (NRW) – zugunsten der Ansicht des LSG NRW entschieden.
Hatte das Hessische LSG in einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz aus dem Jahr 2005 beschlossen, dass ein Grundsicherungsträger – mindestens in Fällen einer wiederholten Antragstellung – nicht verlangen könne, dass ein Leistungsempfänger wiederholt Kontoauszüge beibringe, außer die ARGE habe einen konkreten Verdacht auf Sozialleistungsmissbrauch. Dies hat das Hessische LSG u.a. mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, mit dem Sozialdatenschutz und weiterhin damit begründet, dass durch das generalisierte Verlangen der ARGE an jeden Leistungsempfänger ein verdachtsunabhängiger Vorwurf des Sozialleistungsmissbrauchs greife.
Dem hat das LSG NRW – ohne die näher zu begründen – im Jahr 2007 widersprochen.
Im Grunde schließt sich das BSG nun wiederum der Entscheidung des LSG NRW an, schränkt dieselbe allerdings dahingehend ein, dass es das Schwärzen von Ausgabenpositionen auf den beizubringenden Kontoauszügen erlaubt, die mit einem ethnischen (das Gericht verwendet u.a. auch den nach wie vor gebräuchlichen, aber politisch schwer belasteten Begriff „rassisch“), politischen, religiösen oder auf die sexuelle Orientierung eines Leistungsempfängers hinweisenden Hintergrund zu tun haben.
Urteilsanmerkung:
Der 14. Senat des BSG verkennt in geradezu fundamentaler Weise insgesamt die Schutzfunktion des Sozialdatenschutzes für Sozialleistungsempfänger in der Grundsicherung. Nimmt man lediglich den bislang ausschließlich vorliegenden Medienbericht des BSG, so ist die Entscheidung allerdings wohl unzureichend begründet.
Augenscheinlich hat sich das Gericht – sinnvoller Weise – an der aus der Verwaltungsrechtsprechung bekannten Prüfung einer Trias aus Zweckmäßigkeit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit orientiert.
Während die Zweckmäßigkeit wohl unzweifelhaft sein dürfte – die Verwaltung argumentiert hier regelmäßig mit der Vereinfachung des Verfahrens für sie im Rahmen von Massenverfahren, wie sie die Erbringung der Grundsicherungsleistung für Arbeitsuchende zweifelsohne (leider) darstellt -, ist schon fraglich, ob die Beibringung von Kontoauszügen zum Nachweis, dass kein über den erlaubten Freigrenzen vorhandenes Einkommen oder Vermögen vorliegt, höchst zweifelhaft. Erforderlich ist eine sozialverwaltungsrechtliche Maßnahme (und um eine solche handelt es sich, wenn die ARGE einen Leistungsbezieher auffordert, Kontoauszüge zum Nachweis seiner Bedürftigkeit beizubringen) regelmäßig nur dann, wenn es kein milderes Mittel des Nachweises durch den Leistungsempfänger gibt. Zudem geben Kontoauszüge immer nur ein Bild der vergangenen Situation wider, niemals jedoch eines der gegenwärtigen. Das ist deswegen wichtig, weil es sich auch bei Hartz IV nicht um eine rentengleiche Leistung handelt, also eine Leistung ähnlich der Sozialhilfe ist, die – im Grunde genommen – jeweils von Tag zu Tag gewährt wird, worüber die Leistungsbescheide immer ein wenig hinweg täuschen.
Es ist also überhaupt nicht einsichtig, weshalb jemand, der Leistungen im Rahmen von Hartz IV bezieht, über seine Informationspflicht, der ARGE Einkünfte und Vermögen offenzulegen (dieselbe ist allerdings unstreitig und vollkommen nachvollziehbar, handelt es sich doch Hartz IV-Leistungen eben um eine steuerfinanzierte Grundsicherung und eben nicht um eine beitragsfinanzierte Versicherungsleistung), der Behörde auch noch seine sämtlichen Ausgaben mitteilen muss.
Problematisch ist die Entscheidung auch insofern, als sie die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme Beibringung von Kontoauszügen einfach unterstellt, ohne dies – wie es verfassungsrechtlich geboten wäre – näher zu prüfen.
Bei der Vornahme einer solchen Prüfung würde dem entscheidenden Senat nämlich aufgefallen sein, dass die Beibringung von Kontoauszügen durchaus dem Recht der informationellen Selbstbestimmung unterliegen kann. Ob dies tatsächlich der Fall ist oder nicht, hätte revisionsrechtlich überprüft werden müssen. Da dies augenscheinlich nicht geschehen ist, die diesbezüglichen Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht an datenschutzrechtliche Regelungen gerade erst wieder in letzter Zeit mehrfach konkretisiert hat, ist das Urteil verfassungsrechtlich mindestens angreifbar.
Dass das BSG im vorliegenden Fall den Sozialdatenschutz wenigstens – europarechtlich konform – dahingehend präzisiert, dass Ausgaben, die mit einem Diskriminierungstatbestand nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) einher gehen können, ist im Grunde Kokolores. Diese Tatbestände wären sämtlich bereits durch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) abgedeckt. Zudem „vergisst“ der Senat den besonderen Diskriminierungsschutz behinderter Menschen, der sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt.
Insgesamt verkennt das Gericht weitgehend, wozu Datenschutz, also auch Sozialdatenschutz, eigentlich dienen soll, nämlich den Staat davon abzuhalten, Informationen persönlicher und persönlichster Natur „abzugreifen“, die ihn nichts angehen.
Es hat einen Leistungsträger der Grundsicherung für Arbeitsuchende schlechthin nicht zu interessieren, wofür ein Leistungsberechtigter die empfangene Leistung verwendet, außer er kann diesem einen konkreten Missbrauch aus der gewährten Leistung nachweisen.
Damit sind wir bei einem weiteren Problem, mit dem sich der Senat augenscheinlich gar nicht auseinandergesetzt hat, nämlich dem Faktum, dass kaum ein Leistungsberechtigter so dumm sein wird, einen Leistungsmissbrauch auch noch unmittelbar über sein Giralgeldkonto zu betreiben.
Last not least – und das ist der wesentliche Dreh- und Angelpunkt, mit dem sich das BSG im vorliegenden Verfahren wohl gerade nicht auseinandergesetzt hat – ist die generelle Unterstellung an jeden Leistungsempfänger, er könne ein potenzieller Sozialleistungsbetrüger sein, eine absolute Zumutung für die ganz überwiegende Mehrheit der redlichen Leistungsempfänger. Für ein geradezu marginalisiertes Potenzial an Sozialleistungsbetrügern werden sämtliche Leistungsbezieher unter den Generalverdacht gestellt, selbst Missbrauch zu betreiben.
Nimmt man nicht bereits die vollständige Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme im verdachtsunabhängigen Fall im Rahmen der Prüfung hinsichtlich des Sozialdatenschutzes an, so muss es einem eigentlich doch spätestens bei der Prüfung des vom Verdacht eines Missbrauchs entkoppelten Generalverlangens nach persönlichen Informationen, mit denen die ARGE in aller Regel gar nichts wird anfangen können, doch schon einen Umstand dar, der einen mindestens frösteln machen könnte.
Natürlich ist es verständlich, dass der Arbeitsaufwand, den die ARGEn betreiben, nicht ins Uferlose ausarten darf. Mit der Beibringung von Kontoauszügen machen sich die ARGEn allerdings Mehrarbeit, die in aller Regel gar nicht nötig wäre.