Donnerstag, 14. Oktober 2010

Ein Gespenst geht um in Deutschland Eine neue stillschweigende Debatte über das Thema Behinderung

Ein Gespenst geht um in Deutschland, und es ist diesmal nicht im „Kommunistischen Manifest“ veröffentlicht, aber es geht – wie schon bei Karl Marx – um Finanzielles.

Wie die Website www.taubenschlag.de vor wenigen Tagen berichtet, fühlt sich ein Jugendamt beim Landratsamt im baden-württembergischen Rastatt mittlerweile bemüßigt, einer Familie mit gehörlosen Eltern eine Sorgerechtsentziehung wegen Verletzung der elterlichen Fürsorgepflicht anzudrohen, wenn die Eltern ihrem Kind kein Cochlea Implantat (CI) einsetzen lassen.

Worum geht es? Ums Geld, worum sonst?

Die Familie hat es gewagt, beim Sozialamt des Landkreises Leistungen für Gebärdenprachdolmetschung zu beantragen. Nun ist das Sozialamt allerdings der Ansicht – und damit steht es in Deutschland nicht mehr alleine, dem Verfasser sind mehrere weitere Fälle u.a. aus dem Bereich der inklusiven Beschulung bekannt -, wenn dem Kind ein CI eingesetzt würde, könne man schließlich dauerhaft Kosten sparen, zudem sei durch die Reparaturmaßnahme am Gehör doch die Integration am Leben in der Gesellschaft deutlich besser möglich.

Sind wir jetzt schon wieder so weit, dass behinderte Menschen ausschließlich nach Kostengesichtspunkten betrachtet werden?

Die Tendenz geht ganz offensichtlich in diese Richtung. Wenn wir neuerdings von behindertenpolitischen Sprechern der Regierungskoalition lesen, die Werkstätten für behinderte Menschen sollten zugunsten einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zunehmend reduziert werden, klingt das in den Ohren der Behindertenselbsthilfebewegung zunächst einmal wie Schallmeienklang. Liest man sich allerdings die – dürfitge – Begründung der Aussagen ein wenig intensiver durch, stellt man sehr schnell fest, dass hier – wie häufig im politischen Diskurs wie auch von Einrichtungsträgern – zwar das Vokabular der Behindertenbewegung benutzt wird, das dahinter stehende Moment aber keineswegs ein solches ist, dass den Ansprüchen auf gleichberechtigte Teilhabe genügen könnte. Es geht den Protagonisten sowohl der Sozialhilfeverwaltungen als auch dem politischen Establishment einzig und alleine um einen Gesichtspunkt, nämlich den, die – aus deren Sicht viel zu teure – Eingliederungshilfe finanziell „einzudampfen“.

Im Grunde verlangt der Landkreis Rastatt von den Eltern, dass sie ihr Kind gesellschaftskonform „reparieren“ lassen. Dabei darf man sich durchaus die Frage stellen, was dann der Grundgesetzartikel 3 Absatz 3 Satz 2, niemand dürfe wegen seiner Behinderung benachteiligt werden, eigentlich noch für einen Aussagewert hat? Hier wird menschliches Leben – und das hatten wir vor fünfundsechzig, siebzig, fünfundsiebzig Jahren alles schon einmal – auf seinen „Nutzwert“ hin deklariert.

Wozu hat die Behindertenbewegung jahrzehntelang darum gestritten, als gesellschaftlich gleichwertig anerkannt zu werden, wenn jetzt kein gesamtgesellschaftlicher Aufschrei erfolgt, dass eine in der Mitte der Gesellschaft stehende Personengruppe aufgrund finanzieller Momente massiv diskriminiert zu werden droht?

Es ist ein winzig kleiner Schritt vom Kulturvolk zum Kulturbruch. Wir brauchen eine deutlich offensiv und offen geführte Diskussion darüber, inwiefern sich behinderte Menschen in die Gesellschaft „integrieren“ müssen oder ob nicht die Gesellschaft einer Verpflichtung unterliegt, sich so barrierefrei und antidiskriminatorisch auszugestalten, dass man als behinderter Mensch nicht wieder Angst darum haben muss, nur aufgrund seiner Beeinträchtigung als schiere Spielmasse im öffentlichen Leben behandelt zu werden.

„Nicht über uns ohne uns“? Es gilt hier vielmehr der Grundsatz, dass mit uns zu verhandeln ist, und nicht über unsere Köpfe hinweg.

Wo bleibt der gesamtgesellschaftliche empathische Aufschrei darüber, was uns da jetzt politisch und administrativ von den Verwaltungen gewollt aufgedrückt zu werden droht?