Samstag, 17. Juni 2017

Der SPIEGEL und die schulische Inklusion behinderter Kinder

Sicherlich in keiner Weise hilfreich war bislang die mediale Begleitung des Themas Inklusion behinderter Menschen durch den SPIEGEL. Man erinnere sich nur an die - wirklich unglaubliche - Titelgeschichte, die Sie Anfang vergangenen Monats in Ihrem Blatt gebracht haben. Vielleicht können Sie jemandem wie mir, immerhin multipel selbst Betroffener und Vater selbst behinderter Kinder, einmal erklären, weshalb Sie ein solches Thema an einer Fallgestaltung "aufhängen" müssen, die nicht nur dem Thema massiv schadet, sondern die Inklusionsbemühungen, die es ja durchaus gibt, auch noch hinlänglich beschädigt.
Weshalb ist der SPIEGEL nicht in der Lage, ein solches Thema als das zu transportieren, was es für die Betroffenen ist, nämlich als eine echte Chance? Natürlich ist es trendy und chic, der Antithese zur Inklusion behinderter schon deshalb das Wort zu reden, weil es am Willen fehlt, dieselbe umzusetzen, weil ersichtlich zu wenig Personal zur Verfügung steht, weil es immens an sächlichen und finanziellen Mitteln fehlt. Das - mit Verlaub - ist allerdings ein Problem des deutschen Schulsystems. Man kann dem natürlich dadurch begegnen, wie es CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen jetzt getan haben, die ersichtlich (auch) einen Schulwahlkampf geführt haben, die FDP wohl deshalb, weil es derselben um die Zahnarzteltern ging, die in Angst davor leben, ihren Sprößlingen könnte es die Schulkarriere verhageln, wenn sie zusammen mit behinderten Kindern unterrichtet werden müssen. Der CDU hingegen muss ja schon ihr christliches Menschenbild im Wege stehen; wie kann es sein, dass sich behinderte Menschen anmaßen, die gleichen Rechte für sich geltend machen zu wollen, wie nicht behinderte. Das ist ersichtlich nicht Gott-gegeben. Der Wahlkampf war Diskriminierung reinsten Wasser, und wenn Sie eiinmal etwas in sich gehen würden, kämen Sie - möglicherweise - ja zu dem Schluss, dass mindestens Ihre Berichterstattung (ich fürchte ja eher, die Denke der entsprechenden, das Thema bearbeitenden Redakteure/innen) - genau dasselbe ist. Sie tut nämlich gerade so, als seien behinderte Menschen per se nicht mit nicht-behinderten vergleichbar und stellten für sich genommen dem Grunde nach praktisch immer ein Problem für die nicht-behinderte Mehrheit dar. Bravo, so grenzen Sie über den Daumen gepeilt einfach einmal 10% der Bevölkerung aus.
Dabei bestreitet niemand, absolut niemand, dass wir uns selbst dann in den Mühen der Ebenen bewegen würden, wenn die Inklusion politisch nicht nur rhetorisch gefordert, sondern auch gewollt wäre. Es gibt viel zu wenig qualifizierte Schulbegleiter, die Bezahlung derselben stlelt ein echtes Dilemma dar, die Lehrerschaft ist nach meinen Erfahrungen in großen Teilen mindestens unwillig, weil "das behinderte Kind den Ablaufplan stört und sich nicht nahtlos in den Curriculum einfügt". Spätestens als ich diese Aussage gehört habe, war mir klar, dass nicht an den behinderten Kindern etwas falsch sein muss, sondern offensichtlich grundlegend etwas an der pädagogischen Ausbildung unserer Lehrkräfte. Zudem fehlt den Kommunen das Geld, Schulen in weitem Umfang barrierefrei herzurichten (nun ja, soll sich der Bund doch dafür jetzt finanziell engagieren, das grundgesetzliche Recht hätte er ja neuerdings dazu), es gibt kaum jemals zwei Klassenlehrerer je Klasse, wie sie selbst in einer solchen, in der nicht inklusiv beschult würde, außerordentlich von Vorteil wäre. Wir sparen bei unserer Bildung von vorne bis hinten, verlangen unseren Kindern nach PISA ein immer höheres Leistungsquantum ab und wundern uns dann allen Ernstes, dass uns das Bildungssystem sukzessive "den Bach runtergeht". Ich konstatiere: Man könnte, wenn man wollte, aber schon auf der politischen Ebene will man in Wahrheit ja gar nicht, weil man dann so viele heilige Kühe des Bildungssystems schlachten müsste, dass sich daran großflächig kein Mensch dran traut. Dass es anders geht, zeigt beispielsweise der Ansatz der Offenen Schule Waldau in Kassel. Vielleicht hätten Sie im Rahmen Ihrer Berichterstattung dieselbe einmal besuchen sollen, immerhin war die Schule vor einigen Jahren bei einem Schulranking von Ihnen unter den besten in Deutschland. Das hat Gründe. Aber dieselben muss man natürlich sehen, wahrnehmen und auch rezipieren wollen. Ich bin mir bei Ihnen schlichtweg nicht mehr sicher, ob Ihr Journalismus - gerade bei "Rand"themen, wie es in Ihren Augen sicherlich die schulische Inklusion behinderter Kinder ist - überhaupt noch in der Lage ist, dem gerecht werden zu wollen, ja, ich gehe so weit, die Vermutung anzustellen, dass Sie dazu vermutlich gar nicht in der Lage sind. Es könnte ja Ihr Weltbild dann doch ein wenig deformieren, wenn Sie erführen, dass Inklusion auch funktionieren kann.

Der ursprüngliche Artikel, auf den ich mich beziehe, ist die Titelgeschichte "Illusion Inklusion" aus der gedruckten Ausgabe 19/2017 vom 06.05.2017, S. 100 ff. Bei einem solch wichtigen Thema hat der Verlag es vorgezogen, den Artikel lediglich bezahlweise ins Internet zu stellen.
Offensichtlich ist der Redaktion mittlerweile aufgegangen, dass das Thema - gerade auch aus Sicht der Eltern - eine solche Wucht entfaltet, dass er den Artikel "Schulfrust wegen Inklusion: Die Macht der wütenden Eltern" von Silke Fokke jetzt unentgeltlich online gestellt hat (was natürlich auch daran liegen wird, dass sich der Artikel von Fr. Fokke in der neuen Print-Ausgabe 25/2017 vom 17.07.2017 nicht findet; nun ja, es ist natürlich wichtiger für das Blatt, die Stadt, in der es erscheint, einmal wieder in einer Titelgeschichte relativ unmotiviert hochleben zu lassen. Der Link zu dem Artikel auf SPIEGEL online: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/hamburg-schulfrust-wegen-inklusion-eltern-rechnen-mit-der-politik-ab-a-1151378.html.