Sicherlich in keiner Weise hilfreich war bislang die mediale Begleitung
des Themas Inklusion behinderter Menschen durch den SPIEGEL. Man
erinnere sich nur an die - wirklich unglaubliche - Titelgeschichte, die
Sie Anfang vergangenen Monats in Ihrem Blatt gebracht haben. Vielleicht
können Sie jemandem wie mir, immerhin multipel selbst Betroffener und
Vater selbst behinderter Kinder, einmal erklären, weshalb Sie ein
solches Thema an einer Fallgestaltung "aufhängen" müssen, die nicht nur
dem Thema massiv schadet, sondern die Inklusionsbemühungen, die es ja
durchaus gibt, auch noch hinlänglich beschädigt.
Weshalb ist der
SPIEGEL nicht in der Lage, ein solches Thema als das zu transportieren,
was es für die Betroffenen ist, nämlich als eine echte Chance? Natürlich
ist es trendy und chic, der Antithese zur Inklusion behinderter schon
deshalb das Wort zu reden, weil es am Willen fehlt, dieselbe umzusetzen,
weil ersichtlich zu wenig Personal zur Verfügung steht, weil es immens
an sächlichen und finanziellen Mitteln fehlt. Das - mit Verlaub - ist
allerdings ein Problem des deutschen Schulsystems. Man kann dem
natürlich dadurch begegnen, wie es CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen
jetzt getan haben, die ersichtlich (auch) einen Schulwahlkampf geführt
haben, die FDP wohl deshalb, weil es derselben um die Zahnarzteltern
ging, die in Angst davor leben, ihren Sprößlingen könnte es die
Schulkarriere verhageln, wenn sie zusammen mit behinderten Kindern
unterrichtet werden müssen. Der CDU hingegen muss ja schon ihr
christliches Menschenbild im Wege stehen; wie kann es sein, dass sich
behinderte Menschen anmaßen, die gleichen Rechte für sich geltend machen
zu wollen, wie nicht behinderte. Das ist ersichtlich nicht
Gott-gegeben. Der Wahlkampf war Diskriminierung reinsten Wasser, und
wenn Sie eiinmal etwas in sich gehen würden, kämen Sie - möglicherweise -
ja zu dem Schluss, dass mindestens Ihre Berichterstattung (ich fürchte
ja eher, die Denke der entsprechenden, das Thema bearbeitenden
Redakteure/innen) - genau dasselbe ist. Sie tut nämlich gerade so, als
seien behinderte Menschen per se nicht mit nicht-behinderten
vergleichbar und stellten für sich genommen dem Grunde nach praktisch
immer ein Problem für die nicht-behinderte Mehrheit dar. Bravo, so
grenzen Sie über den Daumen gepeilt einfach einmal 10% der Bevölkerung
aus.
Dabei bestreitet niemand, absolut niemand, dass wir uns selbst
dann in den Mühen der Ebenen bewegen würden, wenn die Inklusion
politisch nicht nur rhetorisch gefordert, sondern auch gewollt wäre. Es
gibt viel zu wenig qualifizierte Schulbegleiter, die Bezahlung derselben
stlelt ein echtes Dilemma dar, die Lehrerschaft ist nach meinen
Erfahrungen in großen Teilen mindestens unwillig, weil "das behinderte
Kind den Ablaufplan stört und sich nicht nahtlos in den Curriculum
einfügt". Spätestens als ich diese Aussage gehört habe, war mir klar,
dass nicht an den behinderten Kindern etwas falsch sein muss, sondern
offensichtlich grundlegend etwas an der pädagogischen Ausbildung unserer
Lehrkräfte. Zudem fehlt den Kommunen das Geld, Schulen in weitem Umfang
barrierefrei herzurichten (nun ja, soll sich der Bund doch dafür jetzt
finanziell engagieren, das grundgesetzliche Recht hätte er ja neuerdings
dazu), es gibt kaum jemals zwei Klassenlehrerer je Klasse, wie sie
selbst in einer solchen, in der nicht inklusiv beschult würde,
außerordentlich von Vorteil wäre. Wir sparen bei unserer Bildung von
vorne bis hinten, verlangen unseren Kindern nach PISA ein immer höheres
Leistungsquantum ab und wundern uns dann allen Ernstes, dass uns das
Bildungssystem sukzessive "den Bach runtergeht". Ich konstatiere: Man
könnte, wenn man wollte, aber schon auf der politischen Ebene will man
in Wahrheit ja gar nicht, weil man dann so viele heilige Kühe des
Bildungssystems schlachten müsste, dass sich daran großflächig kein
Mensch dran traut. Dass es anders geht, zeigt beispielsweise der Ansatz
der Offenen Schule Waldau in Kassel. Vielleicht hätten Sie im Rahmen
Ihrer Berichterstattung dieselbe einmal besuchen sollen, immerhin war
die Schule vor einigen Jahren bei einem Schulranking von Ihnen unter den
besten in Deutschland. Das hat Gründe. Aber dieselben muss man
natürlich sehen, wahrnehmen und auch rezipieren wollen. Ich bin mir bei
Ihnen schlichtweg nicht mehr sicher, ob Ihr Journalismus - gerade bei
"Rand"themen, wie es in Ihren Augen sicherlich die schulische Inklusion
behinderter Kinder ist - überhaupt noch in der Lage ist, dem gerecht
werden zu wollen, ja, ich gehe so weit, die Vermutung anzustellen, dass
Sie dazu vermutlich gar nicht in der Lage sind. Es könnte ja Ihr
Weltbild dann doch ein wenig deformieren, wenn Sie erführen, dass
Inklusion auch funktionieren kann.
Der ursprüngliche Artikel, auf den ich mich beziehe, ist die Titelgeschichte "Illusion Inklusion" aus der gedruckten Ausgabe 19/2017 vom 06.05.2017, S. 100 ff. Bei einem solch wichtigen Thema hat der Verlag es vorgezogen, den Artikel lediglich bezahlweise ins Internet zu stellen.
Offensichtlich ist der Redaktion mittlerweile aufgegangen, dass das Thema - gerade auch aus Sicht der Eltern - eine solche Wucht entfaltet, dass er den Artikel "Schulfrust wegen Inklusion: Die Macht der wütenden Eltern" von Silke Fokke jetzt unentgeltlich online gestellt hat (was natürlich auch daran liegen wird, dass sich der Artikel von Fr. Fokke in der neuen Print-Ausgabe 25/2017 vom 17.07.2017 nicht findet; nun ja, es ist natürlich wichtiger für das Blatt, die Stadt, in der es erscheint, einmal wieder in einer Titelgeschichte relativ unmotiviert hochleben zu lassen. Der Link zu dem Artikel auf SPIEGEL online: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/hamburg-schulfrust-wegen-inklusion-eltern-rechnen-mit-der-politik-ab-a-1151378.html.
Samstag, 17. Juni 2017
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