Anhörung im Ausschuss für Soziales und Integration des Hessischen Landtages am 01.06.2021
Stellungnahme
zum Entwurf eines Gesetzes
zur Teilhabe von Menschen mit
Sinnesbehinderungen (Sinnesbehindertengesetz;
LT-Drs.: 20/5474)
der hessischen
Landesregierung vom 29.03.2021
mit Anschreiben an den Landtags-Präsidenten
vom 09.04.2021
(in den Landtag
eingebracht am 12.04.2021)
von
Alexander Drewes, LL.M.
Mag. Jur. Dipl.-Psych.
M.A. M.A.
Inklusions-Consult
i.Gr.
A. Prolog
Schon im Hinblick auf die Begrifflichkeiten hinkt der
Entwurf sprachlich den neueren Entwicklungen sowohl der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) als auch der Internationalen Klassifizierung von Beeinträchtigungen (ICD)
hinterher:
Aus einer Schädigung folgt eine Beeinträchtigung (hier: der
Sinnesorgane), die zu einer Behinderung der gesellschaftlichen Teilhabe, sei es
durch Barrieren oder durch Diskriminierung, führt. Mithin müsste es korrekt
Landes-Sinnesbeeinträchtigtengesetz heißen, da die Behinderung den
tatsächlichen Ausfluss des gesellschaftlichen Einwirkens auf den betroffenen
beeinträchtigten Menschen darstellt.
B. Inhaltliche Bewertung des Gesetzentwurfes
I.
Hessen wäre erst das neunte Bundesland, das eine Geldleistung
für gehörlose und taubblinde Menschen einführt. Es wird seitens der
Landesregierung im Entwurf nirgendwo auch nur Versuch unternommen, zu
erläutern, warum das Bundesland Hessen hier wieder einmal den sozialpolitischen
Nachzügler darstellt.
II.
Der Gesetzentwurf stellt einen löblichen inhaltlicher Ansatz
dar, der aber hinsichtlich der finanziellen Leistungsgewährung völlig verfehlt
ist.
III.
Zur Schaffung eines Landesgehörlosengeldgesetzes ([LGlGG]:
1.
Schon der Begriff des
Landesgehörlosengeldgesetzes ist semantisch falsch, schließlich gibt es keine
Landesgehörlosen; semantisch wäre Landes-Gehörlosengeldgesetz korrekt) ist für
gehörlose Menschen schon insofern ein Erfolg, als sie auch im Bundesland Hessen
einen jahrzehntelangen Kampf darum ausgefochten haben, dass sie einen gleichberechtigten
Teil der Gesellschaft darstellen; man denke nur an die auch in Hessen
unsäglichen Diskussionen um die Einführung der Deutschen Gebärdensprache (DGS)
als eigenständige Sprache vor Schaffung des Hessischen
Behindertengleichstellungsgesetzes (HessBGG).
2.
Die Höhe der Leistung des
Gehörlosengeldes im Umfang von 150,- € monatlich ist in Anbetracht der
wesentlich höheren Kostenbelastung, denen gehörlose Menschen z.B. blinden
Menschen ggü. ausgesetzt sind, eine Zumutung.
a.
Allein eine Stunde
Gebärdensprachdolmetschung kostet – schon nach den Regelungen des JVEG –
mindestens 85,- €. Das bedeutete, ein gehörloser Mensch würde sich von dem
Gehörlosengeld noch nicht einmal zwei Stunden Dolmetschung leisten können.
Gerade im privaten Bereich sind gehörlose Menschen sonst regelmäßig auf
Teilhabeleistungen nach dem SGB IX als einkommens- und vermögensabhängige
Sozialhilfeleistung angewiesen. Insofern sind die jetzt in Rede stehenden 150,-
€ nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein.
b.
Die Höhe der Leistungsgewährung
orientiert sich hier ersichtlich nicht am tatsächlichen Bedarf, sondern
ausschließlich an fiskalischen Erwägungen; dies bei einem sodann auch noch
überschaubaren Personenkreis.
3.
Allenfalls als Hohn können die
Betroffenen die Anrechnungsregelung des § 5 Abs. 1 LGlGG empfinden, wonach sich
das Gehörlosengeld dem Grunde nach nicht einmal als eine eigenständige Leistung
definiert, wenn andere vergleichbare Leistungen gewährt werden.
IV. Zur Änderung des Landes-Blindengeldgesetzes (LBliGG):
1.
Etwas besser stellt sich die
Situation für taubblinde Menschen dar, die allerdings einen allumfassenden
Kommunikationshilfebedarf haben. Hier würde nach dem Gesetzentwurf ggw. ein
monatliches Leistungsvolumen im Umfang von 1316,- € gewährt. Da auch für Taubblindenassistenten/innen
der gleiche Kostenansatz wie für DGS-Dolmetscher anzusetzen ist, bedeutete das,
dass hiervon lediglich maximal 15,5 Stunden Assistenzleistungen monatlich
finanziert werden könnten (hierin noch nicht mit eingerechnet sind die Warte-
und Fahrzeiten, für die die Assistenzkraft weiterhin 75,- € geltend machen
kann; vgl. hierzu die Regelungen des JVEG).
2.
Bei einem vollumfänglichen
Assistenzbedarf deckt dies also gerade mal – ausgehend von einer
Berufstätigkeit – 1/16 des durchschnittlichen privaten Tagesbedarfs, nämlich
eine halbe Stunde von notwendigen acht Stunden täglich ab.
3.
Ansonsten ist auch dieser
Personenkreis für die private Teilhabe auf Leistungen der einkommens- und
vermögensabhängigen Eingliederungshilfe nach dem SGB IX angewiesen.
4.
Dass die Leistungsgewährung
als Teilhabeleistung ein völlig neues Instrument auch für den überörtlichen
Sozialhilfeträger ist, erfahre ich gerade im Antragsverfahren gegenüber dem
zuständigen Träger, der den Eindruck erweckt, er habe noch nie mit einer
derartigen Antragstellung zu tun gehabt. Auch das deutet darauf hin, dass die
Anzahl von taubblinden Menschen im Bundesland Hessen durchaus überschaubar ist.
V.
Dass die Landesregierung in ihrer Begründung – immerhin
über 15 Jahre nach Inkrafttreten des HessBGG (und damit der Anerkennung der DGS
auch in Hessen) und auch lediglich viereinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes
(BTHG), mit dem das Beeinträchtigungsbild der Taubblindheit endlich anerkannt
worden ist – zu dem Ergebnis gelangt ist, dass es für diesen Personenkreis
eigener Leistungstatbestände bedarf, ist in Anbetracht der Parteizugehörigkeit
mindestens des Sozialministers außerordentlich negativ bemerkenswert.
VI.
Positiv ins Gewicht fallen die neuen Antragsregelungen (§ 6
Abs. 2 LGlGG; § 6 Abs. 2 LBliGG), wonach es künftig hinreicht, dass dann, wenn die
Merkzeichen „Bl“, „Gl“ und/oder „TBl“ im Schwerbehindertenausweis durch die
Versorgungsverwaltung eingetragen worden sind, dies für die Leistungsberechtigung
im Antragsverfahren hinreicht.
1.
Das bisherige Antragsverfahren
war für die Betroffenen im Rahmen der stattfindenden medizinischen Begutachtung
teilweise schlichtweg unwürdig einer sozialstaatlichen Leistungsgewährung,
ebenso unter dem Aspekt der menschenrechtlichen Teilhabegewährung nach den
Regelungen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK).
2.
Mit der Anerkennung der durch
die Versorgungsverwaltung im Rahmen der Zuerkennung von Merkzeichen erfolgenden
Verwaltungspraxis folgt die Landesregierung jedoch dem Grunde nach nur – wie
sie ja in der Begründung selbst feststellt – der neueren Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) und demselben nachfolgend des
Bundessozialgerichts (BSG). Mithin stellt die Neuregelung keine Besserstellung
der Antragsteller, sondern lediglich die Aufhebung eines bisherigen
Vollzugsdefizits dar.
VII.
Mit der Streichung des § 6 Abs. 3 bis 5 LBliGG nimmt der
Gesetzgeber eine solche von Normierungen vor, die schon in der Fassung des LBliGG
vom 06.11.2011 nicht mehr Gesetz waren.
VIII.
Auch der neu zu schaffende § 5 Abs. 4 LBliGG zeigt
überdeutlich, dass die Landesregierung die Leistungsgewährung auch für blinde
und taubblinde Menschen nach dem Sparstrumpfprinzip als eigenständige Leistung
nur dann anerkennt, wenn andere gleichartige Leistungen nicht erbracht werden
(und der Pflegebedarf hier nach wie vor in einer völlig unrealistischen Höhe
angerechnet wird; blindheitsbedingter Pflegebedarf kommt nach der
Modulgestaltung des SGB XI praktisch überhaupt nicht vor; trotzdem behauptet
die gesetzliche Regelung stante pedes das Gegenteil).
IX.
Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfes behauptet
wird, das LGlGG entspräche inhaltlich weitgehend dem LBliGG, stimmt das
allenfalls für die verfahrensrechtlichen Regelungen, nicht hingegen für die
Leistungshöhe, worauf weiter oben bereits eingegangen worden ist.
C. Resümee
1.
Insgesamt muss man resümierend konstatieren, dass die
Landesregierung hier nicht nur völlig verspätet einen dringend notwendigen
leistungsgesetzlichen Tatbestand für gehörlose und taubblinde Menschen schafft
und das Verfahren sachte positiv zugunsten der Betroffenen ausgestaltet,
sondern dass sie im Hinblick auf die Leistungshöhe bei den jetzt neu
betroffenen Personengruppen (gehörlose und taubblinde Menschen) völlig an der
Lebenswirklichkeit der Betroffenen vorbeiagiert.
2.
Die im Gesetzentwurf genannten Leistungshöhen von 150,- €
für gehörlose und 1316,- € für taubblinde Menschen decken nicht im Ansatz den
tatsächlichen Bedarf und sollen das augenscheinlich auch gar nicht, werden doch
die Leistungen sogar mit vergleichbaren durch andere Leistungsträger
verrechnet.
3.
Man muss der Landesregierung leider unterstellen, dass sie
nicht einmal wie ein Tiger gesprungen und wie ein Bettvorleger gelandet ist,
sie hat den Tiger vorab scheinbar dermaßen schläfrig sein lassen, dass der
Gesetzentwurf, der zudem auch in Teilen schlampig verfasst worden ist, in
seiner Intention – gerade in Anbetracht der Regelungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG, des HessBGG und insbesondere der UN-BRK – als weitgehend gescheitert gelten
muss.