Niemand, absolut niemand, kann mir bislang erklären, wie man ein "modernes Teilhabegesetz" schaffen kann, das gleichzeitig die Teilhabe von beeinträchtigten Menschen in mindestens gleicher Weise wie bislang (das #BTHG führt keinen einzigen weitergehenden Leistungsanspruch als bisher ein) absichert und dabei praktisch aufkommensneutral sein soll. Denn das muss es, wenn bereits im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CDU und SPD im Jahr 2013 steht, dass es mit dem BTHG keine wesentliche Ausgabendynamik geben darf.
Uwe Frevert hat hier dankenswerter Weise noch einmal auf die Situation nach Schaffung des Pflegeversicherungsgesetzes hingewiesen. Damals hatten wir die anfangs völlig unhaltbare Situation, dass Menschen, die einen hohen Pflegebedarf hatten, derselbe teilwiese mit abenteuerlichen Begründungen zunächst vielfach zusammen gestrichen wurde und sich die Bundesregierung letztlich nicht anders zu behelfen wusste, als auf dem Verordnungsweg eine Bestandsschutzregelung einzuführen. Gleiches bekommen wir jetzt für das Teilhaberecht wieder zu hören, wobei sich die Regierung tatsächlich erdreistet, jetzt die Hilfe zur Pflege vor Teilhabeleistungen auch noch vorrangig ausgestalten zu wollen, was letzten Endes für pflegebedürftige Menschen ein faktisches Nullsummenspiel gegenüber der momentan herrschenden Gesetzeslage bedeuten würde.
Wie wenig durchdacht muss ein Gesetzentwurf eigentlich sein, dass sich die Regierung auch hier wieder nur mit einer Bestandsschutzregelung - bislang nur angekündigt, bislang nirgendwo im Entwurf feststehend - behilft?
Wie planvoll diskriminierend muss eine Regierung eigentlich vorgehen, dass sie es selbst zu schaffen scheint, die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales im Hinblick auf die Regelungen "5 aus 9" bzw. bei assistiven Bedarfen immerhin noch "3 aus 9" zu täuschen, von denen selbst der behindertenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Uwe Schommer sagt, er könne sich nicht erklären, wie das #BMAS zu dieser Regelung gelangt sei; er vermute, dieselbe müsse entweder ausgewürfelt worden sein oder die Referenten im Ministerium müssten eine Erscheinung gehabt haben, die über sie gekommen sei?
Wie völlig verkommen muss eine Bundesregierung eigentlich sein, wenn sie jetzt durch ihre Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles im Gesetzgebungsverfahren gemächlich zurück rudern lässt, obgleich die gleiche Bundesregierung noch vor wenigen Tagen mittels Pressmitteilung hat wissen lassen, mit ihr werde es überhaupt keine Änderungen am Gesetzentwurf geben?
Wie komme ich auf die außergewöhnliche starke Formulierung verkommen?
Ich hege seit Monaten, im Grunde seit dem Vorliegen des scheinbar (?) unbeabsichtigt veröffentlichten Referentenentwurfs, die These, das BMAS habe die meisten "Grausamkeiten" in diesen Gesetzentwurf ganz bewusst eingebaut. Bewusst deshalb, weil man - auch wenn man sich jetzt völlig verdutzt ob des Widerstandes gegen den Entwurf gibt - genau mit diesem Widerstand gerechnet hat (mit dem man auch nach diesem unglaublich fadenscheinigen Beteililigungsprozess, aus dem sich praktisch nichts bis auf einige Worthülsen im Entwurf wiederfindet, rechnen musste). Ich unterstelle des Ministerium: Es hat diese Grausamkeiten bewusst "eingebaut", um sie hernach in den Anhörungen un in der zweiten und dritten Lesung im Deutschen Bundestag wenigstens teilweise wieder kassieren zu können und das dann auch noch als Großtat gegenüber den betroffenen Menschen darzustellen.
Im Grunde wird die gesamte Behindertenselbsthilfe momentan - auch hier unterstelle ich: bewusst und gewollt - von der Bundesregierung am Nasenring durch die Manege geführt. Ich unterstelle: Man hat diesen Protest förmlich herbei provoziert. Was sowohl Bundesregierung als auch Bundesrat überhaupt nicht verschweigen (und das macht die Aussagen der bayerischen Sozialministerin aus den letzten Tagen so unfassbar unglaubwürdig), ist der Umstand, dass beide eine entschiedene Reduzierung der Kosten der Eingliederungshilfe anstreben. Eine solche kann es - gerade auch in Anbetracht des demografischen Faktors - aber nur dann geben, wenn man Leistungen auch bei denjenigen Menschen, die bereits solche erhalten, mehr oder minder deutlich einschränkt, indem man diesen Personenkreis beispielsweise auf Assistenzformen verweist, die eine selbstständige Lebensführung dem Grunde nach nicht mehr zulassen (denn nichts Anderes ist das Poolen letzten Endes) und das Ganze hübsch mit einer Zumutbarkeitsregelung garniert. Ja, es ist richtig, die Sozialgerichte legen die Zumutbarkeit mittlerweile intensiv aus, d.h. es gibt nicht mehr nur das Argument der Gleichrangigkeit von Kosten im Bereich der stationären gegenüber der ambulanten Versorgung, die stationäre Versogung muss auch tatsächlich zumutbar sein. Wie es aber halt so ist mit unbestimmten Rechtsbegriffen: Die Sozialleistungsverwaltung juckt das in aller Regel nicht die Bohne. Und sie kann - durch entsprechenden Druck, den auszuüben sie jederzeit in der Lage ist - durchaus Situationen schaffen, dass den Betroffenen - Zumutbarkeit hin oder her - vielfach überhaupt keine andere Wahl bleibt, als der Pooling-Lösung oder der vom Sozialleistungsträger als angemessen empfundenen Wohnform zuzustimmen. Ich sauge mir das auch nicht aus den Fingern, das ist meine nahezu tagtäglich erlebte Beratungserfahrung.
Der Kostenträger kann im Gegensatz zu den Betroffenen jederzeit auf Zeit spielen, vor Ablauf eines halben Jahres ist man juristisch ja noch nicht einmal in der Lage, in der Hauptsache Untätigkeitsklage zu erheben (und Anordnungsverfahren im einstweiligen Rechtsschutz sind - das darf man nicht vergessen - in der Prüfung immer kursorisch). Deshalb ist es schon bemerkenswert, dass man sogar von Vertretern dieser Regierungskoalition, eben und gerade auch von Vertretern dieser Bundesregierung - immer wieder auf den Rechtsweg verwiesen wird, in dem dann doch nötigenfalls geklärt werden könne, ob die Maßnahmen des Sozialleistungsträgers rechtmäßig seien. Das verkennt zum einen fundamental, dass auch die Exekutive, also die gesamte Verwaltung, durch die Verfassung an Recht und Gesetz gebunden ist (was sie aber im Sozialleistungsrecht vielfach schlichtweg nicht schert; schließlich gibt es keine einzige tatsächliche Sanktionsmöglichkeit gegenüber behördlicher Willkür außerhalb des Staatshaftungsrechts). Zum anderen konzedieren die Regierungsvertreter damit inzidenter, dass sie einige Regelungsbereiche im Entwurf selber für so schwach erachten, dass hierüber die Rechtsprechung erst ihr letztes Urteil wird fällen müssen.
Man hat rot-grün nach der Regierungsübernahme 1998 - völlig zurecht - vorgeworfen, sowohl die Gesetzgebungstätigkeit der damaligen Bundesregierung als auch in Teilbereichen ihr Verwaltungshandeln seien von einer miserablen Qualität gewesen. Was sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales allerdings mit dem BTHG-Entwurf erlaubt, was sich das Bundesministerium für Gesundheit gleichzeitig mit dem Entwurf eines Pflegestärkungsgesetzes III (PSG III) gegenüber beeinträchtigten Menschen herausnimmt, hat nur mit Dilettantismus nichts mehr zu tun.
Es ist der regeirungsseitige Versuch, ein finanzpolitisch gewolltes Spardiktat auf dem Rücken von 700.000 Leistungsmpfängern der Eingliederungshilfe auszutragen, es ist der Versuch, das Spardiktat auf dem Rücken von Leistungsempfängern der Hilfe zur Pflege auszutragen, da für diesen Personenkreis aufgrund des künftigen Vorrangs der Hilfe zur Pflege vor Teilhabeleistungen der bisherige Heranziehungsansatz für Einkommen und Vermögen verbleiben soll (gleiches gilt übrigens für die Blindenhilfe).
Vielleicht kann mir wenigstens hier irgendjemand erklären (die Vertreter der Regierungskoalition und die der Bundesregierung konnten es bislang nicht), inwiefern die Gesetzentwürfe zum BTHG und zum PSG III dem verfassungsrechtlichen Grundsatz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und dem gesamten Wortlaut und Geist der als einfaches Recht geltenden UN-Behindertenrechtskonvention entspricht.
Die Bundesregierung schafft mit den Entwürfen des BTHG und des PSG III nicht nur eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, sondern sogar eine dreistufige. Künftig gibt es also nicht nur - wie bislang - Bürger erster Klasse, die entweder nicht beeinträchtigt sind oder beeinträchtigt sind, aber keine Leistungen der Teilhabe in Anspruch nehmen (müssen), Bürger zweiter Klasse, die Teilhabeleistungen benötigen und dieselben auch in Anspruch nehmen, es gibt dann künftig selbst bei der Gruppe der beeinträchtigten Menschen Parias, wenn sie denn auf Teilhabe und auf Pflegehilfeleistungen angewiesen sind und dieselben auch in Anspruch nehmen (müssen).
Abgesehen davon, man muss auch den Finger immer wieder in diese Wunde legen, dass es der Gesetzgeber nicht schafft, endlich ein einheitliches Teilhabesystem zu schaffen, dass den Betroffenen ermöglicht, die Leistung bei einem einzigen Teilhabeleistungsgeber abzurufen und die Ansprüche aus einer einzigen gesetzlichen Regelung verständlich nahe gebracht zu bekommen, sind dem Gesetzgeber die Angehörigen von beeinträchtigten Menschen schlichtweg egal. Es gibt viele Angehörige, die immer wieder darauf hingewiesen haben, in wie schmählicher Hinsicht sie von der Verwaltung schlicht und einfach "im Stich gelassen" werden. Das ist leider im Beteiligungsprozess schon viel zu kurz gekommen, der Regierungsentwurf nimmt sich dieser Problematik außer durch nichtssagende Rabulistik - in keiner Weise konstruktiv an.
Das ist eine schändliche Gesetzgebung, die hier versucht wird, und man ist versucht, sich - einer militärischen Tradition hier dem Star Trek-Universum entlehnt - wie die Klingonen brüsk von Meschen wie Andrea Nahles abzuwenden und ihnen mit all' der gebotenen Verachtung, die man für so ein menschenrechtsunwürdige Verhalten haben kann, nur noch den Rücken zu zeigen.
http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/34777/Bewegung-bei-Andrea-Nahles-erkennbar.htm