Es ist schon wirklich unglaublich, mit welcher bräsigen Selbstgefälligkeit die #Bundesregierung hier wiederholt die wahrheitswidrige Behauptung aufstellt, ihre Politik trüge den Regelungen der #Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-#BRK) weitgehend Rechnung. Der Witz ist: Darauf fallen selbst „alte Hasen“ wie die Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Kerstin Girese, herein, die auf einer Veranstaltung in einer rheinischen Stadt vor einigen Tagen allen Ernstes behauptet hat, die Regel „5 aus 9“ entspräche den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das ist richtig und gleichzeitig falsch, und mit einer derartigen Doppelzüngigkeit argumentiert diese Bundesregierung im gesamten Gesetzgebungsverfahren für ein #Bundesteilhabegesetz (#BTHG). Richtig ist es deshalb, weil im BTHG-Entwurf weitgehend die Terminologie der Internationalen Klassifikation an Beeinträchtigungen (ICH) übernommen worden ist. Das Problem ist, was die beiden Unterreferate im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (#BMAS) daraus gemacht haben.
Der eine oder die andere mag die Hintergründe dieses Gesetzgebungsverfahrens nicht kennen, deshalb dazu hier noch einmal ein Kurzabriss:
Die Bundesregierung hat durch das BMAS mehrere Monate lang bis ins vergangene Jahr hinein einen umfassenden Beteiligungsprozess mit den Betroffenenverbänden unternehmen lassen. In diesem Beteiligungsprozess wurden vermeintlich die Grundlagen für ein – wie es im Koalitionsvertrag steht – modernes Teilhabesicherungsgesetz vereinbart.
Durch Zufall (oder willentlich, so genau weiß man das nicht) ist bereits Ende letzten Jahres ein erster Referentenentwurf an die Öffentlichkeit gelangt, der – man kann das überhaupt nicht anders schreiben – auf die am Beteiligungsprozess mit involvierten betroffenen beeinträchtigten Menschen wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt hat. Von den im Beteiligungsprozess erarbeiteten Eckpunkten fand sich praktisch überhaupt nichts in diesem Referentenentwurf wieder.
Nun kann man der im Beteiligungsprozess mit teilgenommen habenden Behindertenselbsthilfe natürlich Naivität vorwerfen, das sogar – leider – zurecht. Man hätte nur den Koalitionsvertrag zwischen #CDU/#CSU und #SPD von 2013 einmal hinlänglich lesen müssen. Dort ist ausdrücklich ausgeführt, dass die Koalitionspartner zwar ein modernes Teilhabegesetz zu schaffen beabsichtigen, allerdings – und das wird prominent dargestellt – unter strikter Begrenzung der Ausgabendynamik. Nun kann mir niemand hinreichend erklären, wie man eine Ausgabendynamik begrenzen will und gleichzeitig einen voll bedarfsdeckenden, individuellen und kostendeckenden Leistungskatalog aufrechterhalten will, zumal wenn man in Anrechnung stellt, dass der demografische Wandel die Zahl der Anspruchsteller erheblich in die Höhe schnellen lassen würde.
Ergo griff das für dieses Gesetzgebungsverfahren zuständige BMAS zu mehreren gesetzestechnischen Tricks. Zum einen wird mithilfe des Pflegestärkungsgesetzes III (PSG III) ein Vorrang der Hilfe zur Pflege vor der Teilhabeleistung der Eingliederungshilfe (die sich dann allerdings nicht mehr so nennen wird, es handelt sich ja – rabulistisch und auch noch inhaltlich falsch – vermeintlich um Teilhabe) definiert, wobei man bei der Hilfe zur Pflege die bisherigen Heranziehungsregelungen für Einkommen und Vermögen einfach auf dem bisherigen Stand belässt (also: zweifacher Eckregelsatz plus Kosten der Unterkunft plus notwendige Kosten im Rahmen von Arbeitsverhältnissen hinsichtlich des Einkommens, 2600,- € für das Vermögen; die gleichen Regelungen betreffen übrigens auch die Blindenhilfe).
Ein weiterer Trick ist die Schaffung der Regelung „5 aus 9“ bzw. „3 aus 9“ bei assistiven Leistungen. Diese Regelung besagt nichts Anderes, als dass in Zukunft in mindestens fünf Lebensbereichen ein Hllfebedarf gegeben sein muss, um überhaupt noch Teilhabeleistungen erhalten zu können. Das widerspricht in fundamentalter Weise der bisherigen sozialhilferechtlichen Regelung der umfassenden Bedarfsdeckung. Immerhin kann die Regelung für sich in Anspruch nehmen, dass sie dem Individualisierungsprinzip folgt, soweit sie künftig Lebensbereiche definiert, in denen Hilfebedarfe überhaupt geltend gemacht werden können (das Problem ist die notwendige Kumulierung mehrerer Bedarfsgruppen, um überhaupt Teilhabeleistungen erhalten zu können).
Das scheint nun sogar den Koalitionspartnern ein bisschen zu starker Tobak, zumindest haben Abgeordnete der Regierungsfraktionen hier in der Debatte bei Einbringung des Gesetzes zugesichert, hier nachbessern zu wollen.
Ein weiterer, mindestens ebenso perfider Trick, ist das sog. „Poolen“ von Leistungen.
„Poolen“ meint in diesem Zusammenhang nichts Anderes, als dass sich mehrere Assistenznehmer einen Assistenten teilen müssen. Das wird dazu führen, dass eine selbstständige Lebensführung, die sich die beeinträchtigten Menschen teilweise über Jahre hinweg erkämpft haben (es gibt Fallbeispiele, wo es Jahre gedauert hat, bis ein etwas über 20 Jahre alter Mensch aus einem Altersheim ausziehen kann, in das er auf Zuweisung des zuständigen Sozialamtes ziehen musste, weil die Assistenzleistungen dort preisgünstiger zu erbringen waren), mindestens erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Es wird dazu führen, dass bisherige selbstständige Wohnformen deshalb aufgegeben werden müssen, weil die Assistenzleistung „gepoolt“ wird.
Nun wird vonseiten der Bundesregierung zugesichert, es solle eine Bestandsschutzregelung für die bisher im Leistungsbezug stehenden Menschen geben. Ich lese nichts von einer Bestandsschutzregelung im Gesetzentwurf. Im günstigsten Fall wird es so laufen, dass sich das BMAS Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes dazu herablässt, diesbezüglich auf dem Verordnungswege tätig zu werden. Das gibt dann mutmaßlich ein ähnliches Desaster wie bei Schaffung des Pflegeversicherungsgesetzes 1994, wo manchem der betroffenen pflegebedürftigen Menschen 24-Stunden-Assistenzen zunächst teilweise bis auf vier Stunden heruntergekürzt worden sind und sich dieselben nur auf dem Klageweg zu behelfen wussten.
Ein weiteres Argument, das in diesem Zusammenhang gerne von den Befürwortern des Gesetzentwurfes vorgebracht wird, ist das der Zumutbarkeitsregelung, die von den Sozialgerichten ja doch eher extensiv ausgelegt würde. Das ist – im Großen und Ganzen – richtig, zeigt aber sehr eindrücklich, wie selbst die Befürworter des Gesetzes die Sozialleistungsverwaltung in den Kommunen und den Bundesländern tatsächlich einschätzen. Letzten Endes gibt man mit diesem Argument ja zu, dass es nach Schaffung des Gesetzes in mehr als vernachlässigbarem Umfang (und einen solchen kann es überhaupt nicht geben; es geht jedes Mal um das individuelle Schicksal eines Menschen) dazu kommen wird, dass die Sozialleistungsverwaltungen in rechtswidriger Weise Ansprüche selbst dann zunächst versagen werden, wenn dieselben bislang gewährt oder gar gerichtlich durchgesetzt worden sind. Das Argument dabei: Wir haben einen neuen Leistungsberechtigungskanon, unter den viele der Betroffenen eben überhaupt nicht mehr fallen werden.
Zwei weitere – wesentliche – Punkte will ich hier wenigstens noch kurz benennen:
Die Bundesregierung berühmt sich, dass es künftig in Werkstätten für behinderte Menschen (#WfbM) #Frauenbeauftragte geben wird.
Weder hat die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf sich um die Problematik bemüht gesehen, die Funktion der #Werkstattbeiräte im Sinne eines Betriebsrates zu stärken (damit hätte man nämlich zum ersten Mal zugegeben, dass es sich bei der Tätigkeit von Werkstattangehörigen durchaus um eine Arbeitsleistung handelt, die dem gewöhnlichen Arbeitsrecht unterfällt), noch – und das wäre dann wirklich einmal ein Quantensprung gewesen – war sie bereit, wenigstens für diesen Bereich (zugegeben, das ist mit derjenige, der am meisten Kosten zu verursachen scheint; scheint deshalb, weil hier Kosten zugunsten von Einrichtungsträgern einfach in die Eingliederungshilfe verschoben werden, die dort weder dem Recht der Eingliederungshilfe nach noch haushaltsrechtlich in irgendeiner Form hingehören) an die Abschaffung der WfbM zu denken. Dass das möglich und finanzierbar ist, lebt uns ggw. Schweden vor. Schweden hat ein deutlich geringeres Bruttosozialprodukt je Einwohner, folglich wäre auch in Deutschland machbar, was Schweden vorlebt. Nein, man will an den Strukturen überhaupt nichts ändern, von Regierungsseite hört und liest man immer wieder, es handele sich bei der deutschen Behindertenhilfe um bewährte und erfolgreiche Strukturen. Bewährt sind diese Strukturen deshalb, weil sie der Verwaltung möglichst wenig Arbeit machen (was sie bei individueller Leistungsgewährung aber durchaus würden). Erfolgreich sind sie in keiner Weise. Wir haben eine erschreckend hohe und eigentlich völlig unerklärlich permanent steigende Anzahl an Werkstattbeschäftigten. Das kann ökonomisch nur bedeuten, dass es Einrichtungen in diesem Lande gibt (und bedauerlicherweise zählen dazu selbst die Träger der Freien Wohlfahrtspflege), die von der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen in WfbM finanziell erheblich profitieren müssen.
Zuletzt: Auch daran, dass sich die Angehörigen von schwer- und schwerst beeinträchtigten Menschen sowohl in der Betreuung als auch in der Versorgung und Pflege ihre eigene Gesundheit und psychisches Wohlergehen ruinieren, weil sie die Tätigkeiten übernehmen, die eigentlich durch finanzierte Assistenzkräfte zu erbringen wären, ändert dieser Gesetzentwurf buchstäblich nichts (übrigens auch nicht der des PSG III). Man lässt diese Menschen sich buchstäblich aufopfern, mittlerweile erhält sodann die eine oder der andere für diese Tätigkeit sogar einmal einen warmen Händedruck oder gar einen Verdienstorden, an der Lebenssituation dieser Familien wird nichts geändert, weil ja auch das wieder Geld kosten würde.
Was ist das bloß für ein Staat, der sich Menschen erster, zweiter und sogar – die Angehörigen – dritter Klasse hält, durch seine Politiker in Sonntagsreden immer einmal wieder von der „Würde des Menschen“, die unser Grundgesetz für unantastbar erklärt, faseln lässt, sich auf der anderen Site aber weder um eben dieses Grundgesetz (auch und gerade nicht bei der neueren Gesetzgebung zum Behinderten-Gleichstellungsgesetz [#BGG], zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz [#AGG] und zum jetzigen Entwurf des Bundesteilhabegesetzes) noch um die mittlerweile ausgesprochen konsistente Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (#BVerfG) schert, welches den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (#GG) mittlerweile wörtlich auslegt, der er da lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Man ersetze Niemand durch Jeder, und wir kommen der Lebenswirklichkeit deutlich näher, außer man erstreitet sich seine gesetzlich definierten Rechte vor der Rechtsprechung. Geht es eigentlich nicht noch erbärmlicher, werte Bundesregierung?
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