Samstag, 1. Oktober 2016

Zur Praxis von Entscheidungen von Sozialleistungsträgern

In der Verwaltungsrechtslehre ist völlig unumstritten, dass über einem Bescheid keinesfalls "Bescheid" stehen muss, damit eine behördliche Entscheidung (oder diejenige eines Sozialversicherungsträgers) Bescheidcharakter hat. Wichtig ist einzig und allein, dass der Leistungsträger damit einen begünstigenden oder belastenden Verwaltungsakt erlassen woltle. Zum Pingpong zwischen #Gesetzgeber und #Verwaltung: Zum einen erleben wir es mit dem #Bundesteilhabegesetz (#BTHG) zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren doch recht brachial, dass der Gesetzgeber tatsächliche Verschlechterungen sowohl in der Leistungserbringung als auch im Hinblick auf die Voraussetzungen der Leistungsgewährung schafft. Wie man dieses Teil ernstlich als "Teilhabegesetz" titutlieren konnte, ist mir ein Rätsel. Den Titel müssen die Referenten beim fünften Glas Wein abends um halb zwölf - vermutlich über uns schallend lachend - ersonnen haben, so nach dem Motto: Verarschen wir sie doch gleich noch im Gesetzestitel. Auch für die Leistungsgewährung gilt vorrangig überstaatliches bzw. Verfassungsrecht, soweit es kontradiktorisch zu gewöhnlichem Sozialleistungsrecht ist. Nun wird kein/e Sachbearbeiter/in es wagen, sich seiner oder ihrer Abteilungs- oder Behördenleitung oder gar der kommunalen Dezernatsleitung (oder eben der entsprechenden Vorgesetztenfunktion bei Sozialverischeurngsträgern) entgegen zu stellen. Und das, genau das, macht den Sozialgerichten so viel Arbeit. Natürlich wissen die Dezernatsleitungen, wissen die Behörden- und Abteilungsleitungen, dass sie wider Recht und Gesetz handeln, obwohl sie das Grundgesetz an Recht und Gesetz bindet. Es ist eine landläufige Feststellung - und absurderweise hat man die Grundsicherung für Arbeitsuchende unter anderem auch deshalb einmal geschaffen, um genau das zu vermeiden -, dass es einen bestimmten Prozentsatz an Leistungsberechtigten gibt, die ihre Ansprüche erst gar nicht wahrnehmen. Bereits damit kalkuliert ein Kämmerer in einer Kommune oder ein Abteilungsleiter Finanzen bei einer Sozialversicherung. Wenn man nun mit entsprechenden Abschreckungseffekten arbeitet, erreicht man im weiteren Antrags- und Widerspruchsverfahren, dass der Anteil der Leistungsberechtigten, die ihre Ansprüche entweder vollständig zurückziehen oder doch zumindest auf einen Teil verzichten, weil ihnen so lange "die Instrumente gezeigt werden", bis sie einer dem Leistungsträger als angemessen erscheinenden Leistungshöhe oder auch durchaus der für den Leistungsträger als angemessen geltenden Kostenhöhe zustimmen, noch um einen weiteren Sprung steigt. Die ganz Widerborstigen lassen sich im Klageverfahren dann - zumindest für die restlichen Betroffenen - dadurch ruhig stellen, dass sie einem Vergleich zustimmen, der ihre ursprünglichen Ansprüche vollumfänglich befriedigt. Dem Kostenträger ist es letztlich lieber, er bezahlt in einem Einzelfall dasjenige, was beantragt worden ist, in vollem Umfang und der Leistungsberechtigte zieht dafür seine Klage zurück, als er würde verurteilt und müsste diese Leistung - nunmehr gerichtlich festgestellt - zumindest an diejenigen Leistungsberechtigten auskehren, die sich entweder hinreichend informiert haben oder rechtsberatend vertreten werden. Nur ganz wenige Kostenträger sind tatsächlich so "dumm", es auf einen höchstrichtlicherlichen Rechtspruch beispielsweise des #Bundessozialgericht (#BSG) "ankommen" zu lassen. Denn damit wäre - faktisch, nicht rechtlich - bundesweit festgestellt, welcher Leistungsumfang und welche Leistungshöhe (auch finanzieller Natur) im konkreten Einzelfall (und derselbe ist regelmäßig auf eine bestimmte Gruppe von beeinträchtigten Menschen ableitbar) tatsächlich zu gewähren ist. Das scheuen Kostenträger regelmäßig aber wie der Teufel das Weihwasser. Was sich durch die Taktik des "Instrumentariums" im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auch weitgehend vermeiden lässt, ist der Umstand, dass das #Bundesverfassungsgericht (#BVerfG) regelmäßig mit berechtigten Leistunsansprüchen von beeinträchtigten Menschen befasst. Man braucht in aller Regel schon einige juristische Tricks und Kniffe, um überhaupt eine #Verfassungsbeschwerde gegen Sozialleistungen erheben zu können, eben weil die Leistungsträger ein vielfältiges Instrumentarium entwickelt haben, Leistungsansprüche abzubügeln. Und sei es, dass die Sozialleistungsverwaltung - wie in sog. Hartz-4-Fällen - einfach so viele rechtswidrige Bescheide erlassen, dass die Sozialgerichtsbarkeit beim Gesetzgeber - skandalöser-, aber verständlicherweise - sogar noch Gehör findet und es eine Beschränkung der rechtlichen Möglichkeiten gegenüber sämtlichen anderen Sozialleistungsbereichen gibt; in Hartz-4-Fällen kann momentan tatsächlich nur ein Jahr - und nicht vier Jahre, wie ansonsten im SGB X vorgeschrieben - gegen rechtswidrige belastende Bescheid vorgegangen werden. Das ist klar verfassungswidrig, aber die Landessozialgerichtsbarkeit hat diese Regelung - sie kommt ihr ja auch unmittelbar zugute - als verfassungsgemäß "durchgewunken". Im Moment muss man festhalten: Wenn einem selbst die Fachgerichtsbarkeit nicht mehr zu helfen imstande oder willens ist, bleibt einem nur noch die Verfassungsgerichtsbarkeit (und im schlimmsten Fall der Europäische Gerichtshof für #Menschenrechte [#EGMR]).

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